Superdiagnostik mit KI
Wie die Radiologie die Medizin der Zukunft gestalten kann
Die Radiologie war eine der ersten Disziplinen, die KI in den klinischen Workflow integrierte. Der Grund: Die Bilddaten liegen längst in standardisierter digitaler Form (DICOM) vor, neuronale Netzwerke wie Convolutional Neural Networks (CNNs) sind für Bildverarbeitung prädestiniert. Doch die Euphorie der Anfangsjahre wich schnell überzogenen Erwartungen.
„Wir Radiologen haben die Planung einer KI-Revolution vielleicht zu linear gedacht“, sagt Prof. Dr. Felix Nensa, Radiologe am Universitätsklinikum Essen. „Wir dachten, wenn der erste Prototyp gut funktioniert, ist der Weg zur klinischen Routineanwendung nicht mehr weit. Aber so einfach ist es nicht.“
Vom Bild zur Information: Der neue Radiologe
Die Rolle von Radiologinnen und Radiologen verändert sich: Weg von reinen Bildinterpreten, hin zu Informationsspezialisten. In Zeiten multimodaler Diagnostik – mit Genomprofilen, Laborparametern und Klinikdaten – geht es um mehr als nur das Bild.

„Radiologinnen und Radiologen müssen heute mehr sein als reine Bildleser“, so Nensa. „Wir werden zu Orchestratoren diagnostischer Datenströme – eine Rolle, die hohe Verantwortung und interdisziplinäres Denken erfordert.“Multimodale KI-Systeme, die verschiedene Datenquellen kombinieren, liefern neue Dimensionen der Präzisionsdiagnostik. Radiologen validieren, bewerten und kommunizieren die daraus resultierenden Ergebnisse – nicht nur gegenüber Kollegen, sondern zunehmend auch gegenüber Patienten.
Mensch und Maschine: Teamwork statt Konkurrenz
KI ersetzt keine Ärzte – sie unterstützt sie. Systeme auf Basis großer Sprachmodelle (LLMs) ermöglichen es, komplexe Zusammenhänge in natürlicher Sprache zu verarbeiten. Radiologen können sich so stärker auf schwierige Fälle konzentrieren, während Routineaufgaben automatisiert ablaufen.Doch der Informationsgewinn birgt auch Risiken: „Je mehr Daten gleichzeitig auf uns einprasseln, desto schwieriger wird es, Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen“, warnt Nensa. „Wir müssen aufpassen, dass KI uns nicht kognitiv überfordert – sondern entlastet.“
Deshalb ist es entscheidend, dass die Systeme nicht einfach alle Informationen präsentieren, sondern intelligent filtern, priorisieren und verständlich visualisieren. „Nur so können wir unseren ärztlichen Stärken gerecht werden – klinisches Urteilsvermögen, morali-sches Empfinden, Selbstreflexion und kritisches Denken.“

Ausbildung neu denken: Radiologie 2.0
Ein zentrales Problem liegt in der Ausbildung. Die klassische Radiologie fokussiert sich stark auf Bildgebung, Technik und Gerätekunde. Themen wie Genetik, Bioinformatik, Systembiologie oder KI-Methoden kommen kaum vor.
„Unsere Ausbildung ist nicht darauf ausgerichtet, mit multimodalen Daten oder KI-Systemen zu arbeiten“, betont Nensa. „Dabei werden genau diese Fähigkeiten in Zukunft essenziell sein.“
Nensa plädiert für ein neues Curriculum – mit stärkerem Fokus auf Interdisziplinarität, Datenkompetenz und Entscheidungsfindung unter Unsicherheit. Radiologinnen und Radiologen müssten künftig auch in molekularer Diagnostik, Onkologie, Labormedizin oder Genetik geschult werden. „Wir brauchen eine Art Superdiagnostiker – klinisch denkend, technologisch versiert, interdisziplinär vernetzt.
“Radiologie als Leitdisziplin in der Superdiagnostik
Radiologinnen und Radiologen sind prädestiniert für die Führungsrolle in einer Ära der Superdiagnostik. Sie arbeiten schon heute interdisziplinär, analysieren komplexe Datenquellen und prägen zentrale Entscheidungsprozesse – etwa in Tumorboards.
„Wir sind es gewohnt, Informationen aus verschiedenen Quellen zu verknüpfen – Bildgebung, Labor, Klinik. Das macht uns zu idealen Koordinatoren im diagnostischen Prozess“, sagt Nensa. Mit KI könnten sie diese Rolle ausbauen – hin zu einem ganzheitlichen Überblick über den Patientenzustand.
In der Praxis bedeutet das: Radiologinnen und Radiologen liefern nicht nur Bildbefunde, sondern integrieren Labordaten, Genetik und klinische Verläufe zu einem Gesamtbild. „Wenn wir diese Rolle annehmen, können wir die Qualität der Patientenversorgung deutlich steigern – und Radiologie zu einem strategischen Motor der Medizin machen.“
Die Zukunft wartet nicht
Der Weg zur KI-gestützten Superdiagnostik ist kein Selbstläufer. Er erfordert neue Ausbildungskonzepte, strategisches Denken und den Mut zur Veränderung.
„Technologischer Fortschritt wartet nicht auf uns“, mahnt Nensa. „Wenn wir uns nicht jetzt weiterentwickeln, könnte irgendwann jemand sagen: Ihr dürft keine Diagnosen mehr stellen – das machen ab sofort Maschinen.“Noch aber liegt die Zukunft in den Händen der Radiologinnen und Radiologen. Wenn sie ihre Rolle als Datenorchestrator annehmen, können sie die Medizin nicht nur begleiten – sondern gestalten.
Originalartikel erschienen im European Journal of Radiology Artifi cial Intelligence: The future of radiology: The path towards multimodal AI and superdiagnostics