Wie man die besten KI-Lösungen für die bildgebende Diagnostik findet
In der Radiologie wird Künstliche Intelligenz (KI) immer stärker genutzt. Das Angebot an kommerziellen KI-Produkten für klinische Zwecke in der Radiologie vergrößert sich rasant. 75 Prozent aller KI-Produkte entfallen in den USA allein auf diesen Bereich. Für potenzielle Anwender kann dieser Markt sehr unübersichtlich sein. Licht in den KI-Dschungel brachte bei der jüngsten Online-Veranstaltung der Reihe „Zukunft Teleradiologie“ die renommierte niederländische Wissenschaftlerin Kicky van Leeuwen.
Kicky van Leeuwen beschäftigt sich seit 2016 mit Deep Learning und KI. Damals sprach man noch von automatisierten Algorithmen – nur ein paar Jahre zurück, aber lang ist es her.
In den vergangenen Jahren entwickelte Kicky während ihres Studiums verschiedene Anwendungen zur Klassifizierung von Diagnoseergebnissen mithilfe von Deep Learning. Als sie begann, diese Themen zunehmend in Gesundheitsorganisationen zu bearbeiten, bemerkte sie die große Lücke zwischen der Entwicklung von Algorithmen und einem regulierten Softwareprodukt, das man im klinischen Alltag einsetzen kann.
Um diese Lücke zu schließen, begann sie mit ihrer Doktorarbeit zum Thema „Validation and Implementation of Artificial Intelligence in Radiology“. Dabei analysierte die junge Forscherin zahlreiche kommerziell erhältliche KI-Produkte im Hinblick auf ihren Nutzen und mögliche Integrationen. Die Ergebnisse veröffentlicht Kicky seit mehreren Jahren auf der Website www.healthairegister.com, die ständig aktualisiert wird.
Nebenbei engagierte sie sich in einer Arbeitsgruppe des niederländischen Gesundheitsministeriums zur Entwicklung eines Leitfadens für Anwendungen von KI im Gesundheitswesen und arbeitet als Botschafterin und technische Expertin bei Scarlet, der einzigen, auf Software und KI spezialisierten benannten Zertifizierungsstelle in Europa. Ende 2023 war sie Mitbegründerin von Romion Health und verfolgt weiterhin ihr Ziel einer verantwortungsvollen Integration von KI-basierter medizinischer Software.
Sie ist also eine echte Expertin, die nicht nur die Entwicklung der KI verfolgt und begleitet, sondern sich kontinuierlich weiter damit beschäftigt und somit in einem Markt, der sich rasant entwickelt, immer am Puls der Zeit ist. Das war auch bei ihrem gut besuchten Vortrag im Rahmen der Reihe „Zukunft Teleradiologie“ ganz deutlich zu spüren.
Der Markt verändert sich
Zu Beginn der Online-Session zeigte Kicky van Leeuwen den interessierten Teilnehmern, wie sich der KI-Produkte-Markt in den vergangenen Jahren verändert hat. Nach einem extremen Peak in den Jahren 2019/2020, folgte 2021 ein starker Einbruch. Grund dafür ist laut Kicky eine Gesetzesänderung in Europa, die dafür sorgt, dass es für Unternehmen schwieriger wird, neue KI-Produkte auf den Markt zu bringen und bestehende im Markt zu halten. Die Rede ist von der Medical Device Regulation, kurz MDR. „Bis Mai 2021 fielen KI-Produkte unter die Medical Device Directive (MDD)“, so die Expertin. „Ab diesem Zeitpunkt dann unter die Medical Device Regulation (MDR). Die Produkte müssen nun wesentlich höheren Anforderungen genügen, um eine Zulassung für den europäischen Markt zu bekommen und zu behalten. Ein ganz besonderer Fokus wird dabei auf den klinischen Nutzen gelegt“, weiß Kicky.
Natürlich tritt eine derartige Gesetzesänderung nicht von heute auf morgen in Kraft. Es gibt eine Übergangszeit, in der Unternehmen ihre nicht MDR-konformen Produkte nachrüsten können.
Ursprünglich waren dafür vier Jahre, also bis Mai 2024, vorgesehen. Die Realität hat jedoch gezeigt, dass diese Zeit nicht ausreicht. Deshalb wurde die Frist bis Dezember 2028 verlängert. „Wer es jedoch bis dahin nicht geschafft hat, sein Produkt ‘upzugraden’, der verschwindet vom Markt“, warnt Kicky. Und das könnten einige sein. Von den sich derzeit auf dem europäischen Markt vertriebenen 218 KI-Produkten, seien bislang nur 27 Prozent MDR-konform. Es gibt also noch viel zu tun, vor allem, weil der Zertifizierungsprozess sehr lange dauert. Ein bis eineinhalb Jahre seien nicht ungewöhnlich, so die Expertin.
AI-Act
Apropos Gesetze. Im Mai 2024 verabschiedeten die EU-Mitgliedsstaaten den sogenannten AI-Act. Das „Gesetz über Künstliche Intelligenz“ ist weltweit das erste derart umfassende Gesetzeswerk zur Regulierung von KI. Es folgt einem weitgehend risikobasierten Ansatz. KI-Technologien werden in vier verschiedene Risikokategorien eingegliedert. Sie reichen von „KI-Systeme mit inakzeptablem Risiko“ über „KI-Systeme mit hohem Risiko“ und „KI-Systeme mit Transparenzanforderungen“ bis zu „KI-Systeme mit keinem/niedrigem Risiko“. An die Einteilung werden verschiedene Verbote bzw. Complianceund Informationspflichten gekoppelt. Technologien mit einem inakzeptablen Risiko sollen komplett verboten werden.
All diese Gesetze haben ihre Berechtigung, da sie dazu beitragen, den Einsatz von KI noch sicherer zu machen. Gleichzeitig sorgen sie aber auch dafür, dass weniger Produkte auf den Markt kommen und dass es eine Verlagerung des inhaltlichen Schwerpunktes gibt. „Während der Fokus der Produkte bislang vor allem auf der Diagnostik lag, konzentrieren sich die Entwickler nun stärker auf das Thema Workflow“, erklärt Kicky. Dieses Thema benötige keine MDR-Zertifizierung; außerdem seien derartige Produkte für eine breitere Zielgruppe relevant und damit wesentlich lukrativer.
Trend KI-Plattformen
Eine weitere Entwicklung, die die Expertin beobachtet hat, ist der Wechsel vom einzelnen KI-Produkt hin zu Plattform-Lösungen. KI-Plattformen integrieren und verbinden im Hintergrund mehrere Produkte und Systeme miteinander, ohne dass der Nutzer sich um die Verknüpfung kümmern muss. Er hat es „lediglich“ mit der einen Plattform zu tun. Die komplexen KI-Prozesse werden dadurch vereinfacht und für den Nutzer leichter zugänglich gemacht. KI-Plattformen sind somit das Bindeglied zwischen den sehr technischen Aspekten der KI und den Anwendungsbereichen in der Praxis.
Auswahl von KI-Produkten: Worauf achten?
Obgleich es schwieriger geworden ist, ein KI-Produkt auf den Markt zu bringen, stehen eine Vielzahl an Systemen zur Verfügung. Doch wie wähle ich aus einem derart großen Angebot das für mich richtige Produkt aus?
Interessant ist, dass, selbst wenn zwei Produkten ein und derselbe Algorithmus zugrunde liegt, sie möglicherweise etwas völlig Unterschiedliches tun, einen völlig unterschiedlichen Zweck erfüllen. Während das Unternehmen A mit dem Algorithmus Anomalien entdeckt, filtert das Unternehmen B damit die normalen Scans heraus. Auch die Anzahl der gefundenen Anomalien sowie die Art der Visualisierung können unterschiedlich sein.
In Amerika gibt es von der Regulierungsbehörde FDA eine Datenbank, in der die Klassifizierung, der beabsichtigte Nutzen und viele weitere Daten jedes einzelnen FDA-zertifizierten Produkts aufgelistet sind. Für den CE-Markt in Europa gab es eine solche Liste lange Zeit nicht. Hier musste sich jeder Nutzer seine Informationen zusammensuchen. Von der Regulierungsbehörde selbst gibt es auch heute noch keine Übersicht, wohl aber von Kicky van Leeuwen und ihrem Team. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit gründete sie die Seite www.AIforRadiology.com, heute www.healthairegister.com, die Licht in den KI-Dschungel bringt und potenziellen Nutzern eine Entscheidungshilfe bei der Auswahl eines für sie geeigneten Produkts bietet.
Um den beabsichtigten Nutzen eines Produktes herauszufinden, ist der Blick in das sogenannte intended purpose statement, das jedes Unternehmen für die MDR-Zertifizierung vorweisen muss, hilfreich. Allerdings ist Kicky bei ihrer Arbeit aufgefallen, dass 95 Prozent der Statements unvollständig sind und neun Prozent widersprüchliche Angaben enthalten. Hier gilt es also noch viel nachzubessern.
Preis, Regulierungsstatus sowie wissenschaftlicher und klinischer Nutzen
Selbstverständlich ist auch der Preis ein wichtiges Kriterium bei der Auswahl eines Produkts. Auch hier unterscheiden sich die Hersteller enorm voneinander. Einige wollen eine Einmalzahlung, andere verkaufen Abonnements/Lizenzen, bei wieder anderen zahlt man pro Nutzung.
Neben den Produkteigenschaften und dem Preis könnten laut Kicky von Leeuwen aber auch der Regulierungsstatus (es genügt nicht zu wissen, dass das Produkt CE-zertifiziert ist, man sollte sich auch über seine Risikoklasse bewusst sein) sowie der belegte wissenschaftliche und klinische Nutzen mit ausschlaggebend für die Wahl eines Produkts sein.
Was den belegten wissenschaftlichen Nutzen anbelangt, so legen leider noch nicht alle Unternehmen ein gesteigertes Augenmerk darauf. „Zwei Drittel der ersten einhundert Produkte auf unserem Portal haben keinen scientific evidence“, so Kicky. Es gibt nur wenige Studien und die, die es gibt, sind o.mals von dem Unternehmen selbst gesponsort.
Um die Situation zu verbessern, haben Kicky und ihr Team das Projekt AIR ins Leben gerufen und zumindest eine retrospektive Auswertung angestoßen. Ziel ist jedoch, nicht nur ein retrospektives, sondern ein kontinuierliches Monitoring von KI-Produkten zu etablieren.
Was den klinischen Nutzen anbelangt, so ist der laut Kicky zumindest für die Niederlande definitiv gegeben. 2022 nutzten ein Drittel der dortigen Krankenhäuser KI; heute sind es noch wesentlich mehr. Über 50 Prozent von ihnen sind überzeugt, dass der Einsatz von KI die Gesundheit verbessert, 33 Prozent sagen zudem, dass sich dadurch die Kosten reduzieren.
Klinischer Nutzen auch für Deutschland gegeben
Einer, der den klinischen Nutzen nicht nur für die Niederlande, sondern auch für Deutschland gegeben sieht, ist Dr. med. Torsten Möller. Der Teleradiologe ist nicht nur Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Teleradiologie und Mit-Veranstalter der Reihe „Zukuft Teleradiologie“, sondern auch Geschäftsführer von Deutschlands größtem Teleradiologienetz reif & möller. Das Unternehmen mit Hauptsitz in Dillingen ist das erste Teleradiologienetz in Deutschland, das nun schon seit zwei Jahren bei der Befundung routinemäßig auf KI setzt. Und das mit großem Erfolg. Wie seine täglichen Erfahrungen sowie eine begleitende wissenschaftliche Studie zeigen, kann die KI, richtig eingesetzt, tatsächlich die Radiologen von Routineaufgaben entlasten und ihnen mehr Zeit für anspruchsvolle Tätigkeiten verschaffen. Außerdem unterstützen sie den Menschen bei der Diagnostik und Entscheidungsfindung, da sie krankha.e Veränderungen schneller und präziser finden und klassifizieren können als das menschliche Auge. „Das ist vor allem dann wichtig, wenn es etwa beim Verdacht auf lebensbedrohliche Erkrankungen auf Sekunden ankommt“, so Dr. Möller. Das gilt unter anderem für den Einsatz bei Kopfverletzungen sowie der Suche nach Embolien in der Lunge oder im Bauchraum.
„Vor allem bei der Priorisierung leistet die KI gute Dienste“, resümiert Dr. Möller. „Wird die KI fündig, fängt auf dem Bildschirm augenblicklich ein Signal an, orange zu blinken. Für Radiologen ist das ein Hinweis, sich dieses Bild bevorzugt anzuschauen.“ KI sei in diesem Fall wie eine schnelle Zweitbefundung, die dabei hilft, die Spreu vom Weizen zu trennen. Damit rücken schwere Fälle automatisch nach vorn und kritische Patienten können schneller behandelt werden.
Als Produktpartner hat sich Dr. Möller für das israelische Unternehmen Aidoc entschieden. Aidoc gilt als der führende Anbieter auf dem Gebiet der KI für das Gesundheitswesen. Es verfügt über zehn CE-gekennzeichnete KI-Lösungen zur Unterstützung in der Detektion, Priorisierung und Kommunikation verschiedener Anomalien. Das Modul-Portfolio aus der Eigenentwicklung wird durch eine Plattformlösung mit Drittpartner-Modulen sinnvoll ergänzt und durch ein AI Operating System (aiOS) orchestriert.
Als breit aufgestellter KI-Partner wird Aidoc bereits in über 900 medizinischen Zentren weltweit klinisch eingesetzt, u.a. in den Universitätskliniken Antwerpen, Basel und Brüssel, im Unfallkrankenhaus Berlin, im Kopenhagener Rigshospital sowie in den Landeskliniken Salzburg. Bereits zum zweiten Mal innerhalb von drei Jahren wurde das Unternehmen durch Auntminnie mit dem Award für die „Best New Radiology Software” ausgezeichnet – 2022 für seine „aiOS-Plattformlösung.“
„Wir haben uns nach einem langen Auswahlprozess sowie einer intensiven Testphase für das Produkt von Aidoc entschieden, weil es unseren Anforderungen und Bedürfnissen am meisten entsprochen hat“, erklärt Dr. Möller. „Und wir haben unsere Entscheidung bislang auch noch keinen Tag bereut. „Das System läuft äußerst zuverlässig, lässt sich leicht bedienen und ließ sich unkompliziert in unsere bestehenden Systeme integrieren. Der Workflow ist wie aus einem Guss, die Befundungsergebnisse hervorragend. Außerdem verfügt Aidoc durch die internationale Kooperation mit Krankenhäusern über einen großen Schatz an Implementierungserfahrungen aus verschiedenen Ländern.“
Blick in die Kristallkugel
Am Ende der Veranstaltung bat Mit-Veranstalter Dr. Uwe Engelmann, Geschäftsführer der NEXUS/CHILI GmbH, die Referentin Kicky van Leeuwen dann noch einen Blick in die Kristallkugel zu werfen und den Teilnehmern zu verraten, wo wir aus ihrer Sicht in Sachen KI in fünf Jahren stehen werden. In Bezug auf die Produkte glaubt Kicky fest daran, dass sich die Plattform-Lösungen durchsetzen werden. In Bezug auf das Berufsbild des (Tele-)Radiologen, geht sie, ebenso wie Dr. Möller und Dr. Engelmann, davon aus, dass die KI auf absehbare Zeit nicht die Radiologen vollständig ersetzen wird. „Ärzte und medizinisches Personal wird es immer geben“, ist sich Dr. Engelmann sicher. „Es werden sich nur teilweise die Aufgaben und Prozesse verändern.“ „Die KI ergänzt vielmehr die Arbeit der Menschen und verbessert so die Qualität der Befundung. Es ist die Synergie von Mensch und Künstlicher Intelligenz, die das beste Ergebnis erzielt“, so Dr. Möller abschließend.
Autoren: Detlef Hans Franke und Pia Bolten – FuP Marketing und Kommunikation, Frankfurt am Main